Züchten ist Denken in Generationen und Populationen

Oft liest man den viel strapazierten Satz, es werde gezüchtet, um die Rasse zu verbessern. Diese Aussage bleibt meistens schwammig und erschließt sich noch am ehesten als das Bemühen des Züchters, möglichst rassetypische, gesunde und leistungsfähige Hunde zu züchten - würdige Vertreter ihrer Rasse.

Doch was bedeutet es tatsächlich, die Rasse zu verbessern, oder das Wohl der Rasse bei der Zucht im Auge zu behalten?

Um diese Frage ernsthaft anzugehen, bleibt es einem nicht erspart, sich ein wenig in die Populationsgenetik zu vertiefen.

Jede Hunderasse sollte auch als Population betrachtet werden. Eine Population wird definiert als Fortpflanzungsgemeinschaft von Individuen der gleichen Art. Somit sieht man sofort, dass es innerhalb einer Rasse durchaus bereits mehrere Populationen geben kann. Mitunter dürfen Farbschläge nicht miteinander verpaart werden, die einfarbigen und die gescheckten Englischen Cocker Spaniel etwa bilden somit keine gemeinsame Fortpflanzungsgemeinschaft sondern sind getrennte Populationen. In manchen Rassen kann man durchaus auch die Show- und die Arbeitslinie als getrennte Populationen betrachten. Und obwohl es durch Importe einzelner Zuchttiere auch international zum Genaustausch kommt, ist etwa in Staaten mit langer Quarantänedauer davon auszugehen, dass diese Tiere mit jenen auf anderen Kontinenten eigentlich keine Fortpflanzungsgemeinschaft bilden.

Der nächste Begriff, der geklärt werden sollte, ist der sogenannte Genpool. Oft wird die Größe des Genpools korreliert mit der Größe der Population, doch dieser vereinfachende Schluß ist nicht zulässig. Die Größe des Genpools beschreibt das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Genvarianten. Gene liegen bekannterweise in Allelen, also unterschiedlichen Varianten, vor. Je mehr Allele jedes Genes in der Population vorhanden sind, desto größer ist der Genpool.
Ein großer Genpool geht einher mit einer hohen Variationsbreite, denn die unterschiedlichen Allele können in jedem Tier zu einer anderen Kombination zusammengesetzt werden.
Durch züchterische Einflußnahme wird jedoch eine Einheitlichkeit angestrebt, zB bezüglich der Farbe oder der Felllänge. Alle Tiere mit unerwünschten Farben gelangen nicht in die Zucht und jene Allele, die für diese Farben kodieren, verschwinden aus dem Genpool - er ist somit kleiner geworden.

Ein züchterisches Werkzeug, um rasch zu einer großen Einheitlichkeit zu gelangen, ist die Inzucht oder Linienzucht. Hier werden verwandte Tiere, welche die erwünschten Merkmale tragen, miteinander verpaart. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit rapide, dass ihre Nachzucht ebenfalls diese erwünschten Merkmale und keine anderen trägt und aufweist. Doch mit der Einheitlichkeit der erwünschten Merkmale werden zwangsläufig auch alle anderen Merkmale einheitlich. Somit trägt die Inzucht ganz gravierend zum Schrumpfen des Genpools bei.

Was hat es für Folgen, wenn der Genpool einer Population immer kleiner wird? Zunächst einmal gibt es immer weniger Varianten, die Möglichkeit zu neuen Kombinationen entfällt. Dies mag im ersten Moment nicht so bedenklich erscheinen, denn falls die vorhandenen Varianten die perfekten und gesunden Varianten wären, wäre das doch zum Wohl der Rasse.
Bei näherem Nachfragen aber findet man den Pferdefuß: Manche Merkmale können nicht statisch und perfekt zugleich sein. Ihre Perfektion liegt gerade in ihrer Wandelbarkeit und ihrem Variantenreichtum.
Als Beispiel sei das Immunsystem genannt, das sich ständig auf neue Bedrohungen einstellen muss, denn bekannterweise mutieren Bakterien und Viren mit extrem hoher Geschwindigkeit. Ein Immunsystem, das immer gleich bleiben muss, weil die beteiligten Gene in der Population nur mehr in sehr wenigen Allelen vorliegen, hat dieser wandelbaren Bedrohung nichts entgegenzusetzen.

Ein großer=variantenreicher Genpool erlaubt es somit einer Population eine rasche Anpassung an eine sich verändernde Umwelt.
Ein kleiner=variantenarmer Genpool kann nur dann bestehen, wenn die Umwelt stabil ist.

Irene Sommerfeld-Stur vergleicht diesen Sachverhalt sehr anschaulich mit zwei Werkzeugkästen:
Ein Werkzeugkasten ist sehr spartanisch bestückt: Er enthält einen Hammer, eine Zange, einen Schraubenschlüssel, einen Schraubenzieher sowie nur eine Größe Schrauben und eine Sorte Nägel.
Der zweite Werkzeugkasten ist die Luxusausführung. Er enthält unterschiedlich große Hämmer, diverse Zangentypen, einen Satz Schraubenschlüssel jeder Größe, Kreuz- und Schlitzschraubenzieher in verschiedenen Größen sowie eine ganze Palette unterschiedlich großer und geformter Schrauben und Nägel.

Für simple Heimwerkeraufgaben mag der spartanische Werkzeugkasten hinreichend ausgerüstet sein, oder auch wenn man zufällig genau die Schraubenmutter festziehen muss, zu der der einzige Schraubenschlüssel passt.
Für anspruchsvollere und abwechslungsreichere Anforderungen hingegen benötigt man die Luxusvariante. Hier findet man ein Werkzeug für jede Aufgabe und kann eine ganze Bandbreite heimwerkerischer Herausforderungen mit Bravour lösen.

Die klare Schlußfolgerung, die man aus diesem Sachverhalt ziehen muss, lautet: Ein großer Genpool ist zum Besten der Rasse.

Dieser Punkt wird umso wichtiger, als die meisten Rassen bereits über einen mehr oder minder stark eingeschränkten Genpool verfügen. Die Gründe dafür sind folgende:

Gründereffekt: Die meisten Hunderassen entstammen einer kleinen Gruppe von Hunden. Diese Hunde stellen nur einen zufälligen Ausschnitt der Gesamtpopulation dar. Basierend auf diesem zufälligen Ausschnitt entwickelt sich die Rasse weiter. Viele Allele, die in der Gesamtpopulation der Ursprungshunde vorhanden waren, sind somit verschwunden. Dafür treten mitunter andere Allele, die in der Ursprungspopulation sehr selten waren, in der neuen Rasse vermehrt auf, weil die Gründertiere Träger dieser Allele waren.

Genetische Drift: Unter genetischer Drift versteht man zufällige Veränderungen der genetischen Zusammensetzung einer Population. Genetische Drift als Zufallseffekt hat ihre stärksten Auswirkungen bei kleinen Populationen - und bei sehr vielen Hunderassen handelt es sich um kleine Populationen. Durch genetische Drift können Allele verloren gehen, andere wiederum in der Population häufiger vorkommen. In jedem Fall kommt es durch genetische Drift zu einer Häufung von Genen mit zwei gleichen Allelen, also homozygoten Genen. Je kleiner eine geschlossene Population also ist, umso schneller steigt das Homozygotieniveau. Für Hunde bedeutet das, dass mit dem Schließen des Zuchtbuches Variation nur mehr verloren gehen kann. Und das tut sie umso schneller, je zahlenärmer die Rasse ist.

Popular Sires: Ein in der Hundzucht bekanntes Phänomen ist die überproportionale häufige Verwendung bestimmter Elite-Deckrüden. Dies mögen Show- oder Leistungschampions sein, in beiden Fällen führt die extreme Verwendung einzelner Rüden zu einer Verkleinerung des Genpools. Darüberhinaus kann eine solche Vorgangsweise dazu führen, dass sich rezessive Defektgene dieses Rüden unbemerkt in der Population verbreiten. Erst in den Folgegenerationen bekommt man die Rechnung in Form von homozygoten und erkrankten Nachkommen dieses Rüden präsentiert.
Einen solchen Fall gibt es auch beim Australian Cattle Dog. Der 1939 geborene Rüde "Little Logic" wurde züchterisch massiv genutzt und hatte 140 eingetragene Welpen, die ihrerseits wieder stark in der Zucht vertreten waren. Leider war der typvolle und herausragende Rüde auch ein Träger der prcdPRA, einer Erbkrankheit, die bei homozygotem Vorliegen beider Allele zur Erblindung des Tieres führt.
Fast jeder Australian Cattle Dog, der heute lebt, stammt von "Little Logic" ab. Die prcdPRA ist die häufigste Erbkrankheit dieser Rasse.

Elitezucht: Nach dem Motto: "Nur das Beste ist gut genug für die Zucht" wird in Hundezüchterkreisen sehr stark selektiert. Und das erscheit auch auf den ersten Blick absolut legitim und sinnvoll zu sein. So werden Zähne gezählt, Röntgenbilder ausgewertet, Gentests angestellt, Leistungsdiplome und Championtitel erworben um zu ermitteln, welche Hunde nun "das Beste" sind.
Aber wie schaut es auf den zweiten Blick aus. Sollten wirklich nur die besten Hunde für die Zucht verwendet werden?
Die Populationsgenetik lehrt uns, dass eine bestimmte Quote von Tieren mindestens zur Zucht eingesetzt werden muss, um die Population zu erhalten. Werden weniger Tiere in der Zucht eingesetzt, als diese Quote vorsieht, kommt es zwangsläufig zu einer Verkleinerung der effektiven Population und des Genpools.
Deshalb sollte man zuerst die Frage stellen, wie viele Zuchttiere man benötigt, um Größe und Variabilität der Rasse zu erhalten. Und dann erst darf man den nächsten Schritt tun und fragen, welche Hunde eingesetzt werden und wo selektiert wird.
Denn jede Selektion bedeutet, dass bestimmte Tiere nicht in die Zucht gelangen, wohingegen andere verstärkt zur Zucht verwendet werden. Und das führt zwangsläufig zu einer Verkleinerung des Genpools und einer Zunahme der Homozygotie.

Man sollte also das Motto "Nur das Beste ist gut genug ist für die Zucht" sei umwandeln in das Motto "Was für die Population am besten ist sollte in der Zucht verwendet werden". Und das wäre nahezu jeder Hund, der grundsätzlich dem Rassestandard nahe kommt, keinen schwerwiegenden Exterieur- oder Wesensfehler hat und der gesund ist.

Womit wir bei den Strategien wären, die ein Hundezüchter anwenden kann, um zum Wohle der Rasse zu züchten, sprich Variantenreichtum und Genpool groß zu halten.

Zum einen ist hier das Anstreben einen möglichst geringen Inzuchtkoeffizienten und Ahnenverlustkoeffizenten bei einer geplanten Paarung zu nennen. Dem Vorteil der raschen Typfestigung mittels Inzucht und Linienzucht kann begegnet werden, indem man solche Tiere miteinander verpaart, die einander in dem erwünschten Merkmal ähneln. So wird nur dieses Merkmal in der Nachzuchtgeneration einheitlicher, nicht aber alle anderen Gene der Hunde.

Weiters sollten Rüden über den Daumen nicht häufiger als Hündinnen zur Zucht verwendet werden, um eine Maximierung der effektiven Population zu erreichen. Dies kann erzielt werden durch eine Decklimitierung für Rüden. "Superrüden" können so keinen überproportionalen Einfluß auf die Population nehmen und andere Rüden haben auch eine Gelegenheit haben, in die Zucht zu kommen. Anzustreben ist der Zuchteinsatz möglichst vieler Rüden.

Auch der Einsatz molekulargenetischer Diagnoseverfahren (DNA-Tests auf Erbkrankheiten) kann helfen, möglichst viele Tiere in der Zucht zu behalten. Beim Australian Cattle Dog ermöglicht es der Gentest auf prcdPRA auch mit heterozygoten Trägern und sogar homozygot kranken Hunden risikolos zu züchten. So können diese Hunde den Genpool bereichern und ihre guten Eigenschaften an die Folgegenerationen weitergeben, während gleichzeitig eine Selektion gegen das mutierte kranke Allel erfolgen kann. Da das kranke Allel in der Population des Australian Cattle Dog sehr häufig ist, würde ein Zuchtausschluß aller befallenen Hunde und aller Überträger zu einem inakzeptablen Verlust an Zuchttieren führen.

Zuletzt sei noch die Nutzung der mathematisch-statistischer Methode der Zuchtwertschätzung zum Erreichen des Zuchtzieles genannt. Mit ihrer Hilfe können auch Merkmale mit geringer Erblichkeit gezielt selektiert werden, indem aufgrund gesammelter Daten über die Verwandten des Hundes eine statistisch wahrscheinlich Aussage über den Genotyp und nicht nur über den Phänotyp des Hundes gemacht werden kann.

Weiterführende Informationen

Prof. Irene Sommerfeld-Stur, Institut für Tierzucht und Genetik, Vet Med Uni Wien

The Canine Diversity Project

Breeding Dogs for the Next Millennium von Dr. Hellmuth Wachtel

Purebred Dog Breeds into the Twenty-First Century: Achieving Genetic Health for Our Dogs von Dr. Jeffrey Bragg

Hellmuth Wachtel: Hundezucht 2000 (Populationsgenetik in der Hundezucht), Verlag Gollwitzer, Weiden 1997, ISBN 3-923555-10-5